Es gibt sicherlich nicht sehr viele Regisseure, die große Teile ihrer Filmographie nutzen, um von Figuren zu erzählen, die sie selbst niemals sein wollen. Alexander Payne ist vielleicht so ein Regisseur. Jemand, dessen Leben aus beruflicher Sicht nicht von nennenswerten Niederlagen durchzogen ist, trotzdem aber von all seinen was-wäre-wenn-Alter-Egos aus weniger erfolgreichen Paralleluniversen heimgesucht wird. Warum das so ist, lässt sich unschwer erkennen: Seine Heimatstadt Omaha, Nebraska, ist nicht gerade dafür bekannt, eine schillernde Brutstätte für die ganz großen Namen zu sein; nach eigenen Angaben habe es niemanden in Alexander Paynes Umfeld gegeben, der sich ernsthaft mit Kunst, in welcher Form auch immer, auseinandergesetzt hat.
Sich dennoch dazu entschließen, eine Karriere im Film anzustreben, an die UCLA in Los Angeles zu gehen, sich überhaupt das Ziel zu setzen, als Autor und Regisseur Fuß zu fassen, erfordert ungeheuren Mut. Und der hat sich ganz offensichtlich bezahlt gemacht, denn nun, mit 55 Jahren, kann Alexander Payne nicht nur auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken, sondern auch einen ganz besonderen Status in der Industrie pflegen. Er steht auf einer verhältnismäßig kurzen Liste von Regisseuren, die die volle Entscheidungsgewalt über den finalen Schnitt ihrer Filme haben, er wird von Publikum und Kritikern gleichermaßen geliebt, ist somit auch ein Stammgast bei den Oscars. Er ist nie so geworden wie Warren Schmidt in About Schmidt, wie Miles Raymond in Sideways, wie Matt King in The Descendants, wie David Grant in Nebraska - Männer also, die den Weg zu einer erfolgreichen Karriere niemals meistern oder viel zu spät merken, dass sie potentiell wertvolle Chancen in ihrem Leben verpasst haben, sei es nun in Bezug auf den Beruf oder auf den Umgang mit ihrer Familie.
Das mag auf dem Papier überaus unsympathisch klingen. Filmemachen des Egos wegen, sich daran erinnern, dass das eigene Leben deutlich besser gelaufen ist als das der fiktiven Charaktere. Es wäre eine denkbar menschenfeindliche Herangehensweise an das Medium Film, und gerade weil bei Alexander Payne das Gegenteil der Fall ist, ist er so wertvoll für das zeitgenössische Hollywoodkino. Das Sezieren dieser von Fehlentscheidungen vernarbten, zum Scheitern verurteilten Figuren ist nämlich niemals ein spöttischer Vorgang. Sein Blick auf Augenhöhe der Charaktere, sein aufrichtiges Interesse an all ihren Facetten tut sich sehr wohltuend im US-amerikanischen Mainstreamkino hervor. Inmitten eines plotversessenen Marktes definieren sich die Handlungen seiner Filme in erster Linie durch ihre Charaktere selbst. Payne interessiert sich weniger dafür, was passiert, als wem es passiert. Erinnerungen an das ruhmreiche New Hollywood der 1970er Jahre kommen da natürlich von ganz alleine auf.
Konkreter: Alexander Payne reiht sich in eine Tradition von humanistischen Tragikomikern ein, die ihren Höhepunkt wahrscheinlich mit dem unerreichbaren Hal Ashby gefunden hat - nicht umsonst nennt er Ashbys Das Letzte Kommando als einen seiner Lieblingsfilme. Payne ist natürlich bei Weitem nicht der einzige US-amerikanische Regisseur, dem die Einflüsse Hal Ashbys deutlich anzumerken sind, doch im Gegensatz zu seinen Kollegen - mit der Ausnahme von vielleicht Noah Baumbach - gelingt ihm ein humorvoller Blick auf die tragische Existenz seiner Figuren, der die Ernsthaftigkeit ihrer Lage niemals abstreitet, geschweige denn sie zu Karikaturen verkommen lässt, wie es beispielsweise in den letzten Jahren bei Wes Anderson so häufig der Fall war. Payne vermittelt gekonnt den Eindruck, dass er mit den Akteuren seiner Geschichten in einem Boot sitzt, so sehr er ihre Situationen auch belächeln mag. Dass er dabei vielleicht hin und wieder einen etwas eindimensionalen Feel-Good-Duktus anschlägt, sei ihm verziehen.
Immerhin unterstreicht das eines der positivsten Charakteristika seiner Filme: Am Ende gibt es immer noch nicht nur die Hoffnung, sondern die konkrete Aussicht auf Besserung. Ob es nun das ganz große Familiendrama um eine sterbende Mutter und Ehefrau in The Descendants ist, die Erfolglosigkeit eines Schriftstellers in seiner Midlife-Crisis in Sideways oder das frustrierende Nachleben einer Schulsprecher-Wahl für einen Highschool-Lehrer in Election. Sie alle werden mit ihren verschiedenartigen Leiden nicht für sich allein dem trostlosen Ende überlassen, sondern bekommen immer die Chance, das Beste aus ihrer Lage herauszuholen. Zyniker mögen das naiv nennen, für andere ist es eine Film gewordene Lebenslust, die in ihrer Ehrlichkeit nur selten anzutreffen ist. Diese Liebe zum "echten" Leben ist seiner Meinung nach der wichtigste Aspekt eines jeden Films: "Meine Hoffnung ist, dass wir in eine Ära gelangen, in der der Wert eines Films in seiner Nähe zum echten Leben liegt, anstatt in seiner Distanz dazu. Um das zu schaffen, braucht es Schauspieler - Stars, im Grunde genommen - die nicht unbedingt so aussehen wie Ben Affleck."
Nun wäre es aber auch unfair, Alexander Paynes Schaffen auf einen langen hoffnungsvollen Ausflug eines Menschenfreundes auf die große Leinwand zu reduzieren, weil es seine Fähigkeiten als Regisseur schmälern würde. Zwar findet seine Komik oft genug in scharfzüngigen Schlagabtauschen statt, wie sie in ihren besten Momenten auch von Ernst Lubitsch hätten stammen können. Mindestens genauso viel passiert jedoch einzig und allein in den Bildern - Payne selbst sagt, er habe als Teenager vor allem Stummfilme wie die von Charlie Chaplin und Buster Keaton in sich aufgesogen. Ganz offensichtlich hat er jede Menge von ihnen gelernt. Der visuelle Gag ist in der gegenwärtigen Komödie ein kaum noch genutztes, weil von wenigen Regisseuren wirklich verstandenes Gut, doch Payne beweist, dass die Technik auch nach einem Jahrhundert noch nichts von ihrer Effizienz eingebüßt hat. Er arbeitet am Liebsten in Totalen, setzt alle an der Szene beteiligten Figuren mitsamt des Raumes in einen Frame und behält so einen Überblick über die agierenden Akteure, was ein gewisses Geschick erfordert, aber dafür auch mit rein durch die Bilder transportiertem, erfrischendem Humor belohnt wird.
Wer Alexander Payne auf all das ansprechen will, wird nur ein genervtes Abwinken bekommen. "Ich hoffe bloß, dass ich eines Tages einen wirklich guten Film machen kann." Das hat er seiner Meinung nach nämlich noch nicht. Wenn ihm jemand sagt, dass Sideways sein absoluter Lieblingsfilm ist, dann antwortet er: "Komm bei mir Zuhause vorbei und schau dir ein paar echte Filme an." Wenn Payne von echten Filmen spricht, dann meint er Die sieben Samurai von Akira Kurosawa, dann meint er Achteinhalb von Federico Fellini, dann meint er Viridiana von Luis Buñuel. Die Größe dieser Filme wird wohl niemand bestreiten wollen, ein bisschen weniger bescheiden darf Alexander Payne aber schon sein.